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von_geisterhand ([personal profile] von_geisterhand) wrote2006-06-11 02:24 pm
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Heute schon Dein Schmürz gekickt?
Das Theater der Letzten spielt Boris Vians "Die Reichsgründer oder Das Schmürz"

Der 1959 früh verstorbene französische Autor Boris Vian ist vielen in Deutschland nur durch seine surrealistischen Romane bekannt - wie etwa durch "Der Schaum der Tage", in dem Vian einen guten Freund und Geistesverwandten als aufgeblasenen Medienstar "Jean-Sol Partre" auftauchen läßt. Wie dieser hat er aber auch großartige Theaterstücke geschrieben - und sie wirken heute in ihrer leichtfüßigen Hintergründigkeit zeitgemäßer als der trockene Stoff des Existenzialisten. Wer auf dem gerade beendeten Berliner Theatertreffen begeistert war von der Mischung aus Boulevard und skurriler Absurdität des jungen Autors Händl Klaus ("Dunkel lockende Welt", Münchner Kammerspiele), der erkennt in Vian einen direkten Vorläufer - mit mehr Tiefgang.
Wem außer Vian wäre eine solche Grundkonstellation eingefallen: Eine Familie - Vater, Mutter, Tochter, Dienstmädchen - wohnhaft zunächst in standesgemäßen Verhältnissen - fühlt sich immer dann gezwungen, Hals über Kopf umzuziehen, wenn ein bestimmtes, unheilschwangeres Geräusch ertönt. Müßig, nach dem Warum zu fragen: Die menschliche Existenz ist eine absurde. Dumm ist, daß man sich bei den Umzügen ständig verschlechtert - es geht immer nach oben im Haus, und immer werden es weniger Zimmer, in denen man sich einrichten muß - bis hin zur Mansarde, und von da führt dann keine Treppe mehr nach oben. Vater und Mutter wissen der zunehmend mißtrauischen Tochter gegenüber jedoch jede Beeinträchtigung ihrer Lebensrealität zu leugnen: "Was haben wir für ein wundervolles Renaissancebuffet!" Hier kann die Kraft positiven Denkens gelernt werden. Doch etwas stimmt nachdenklich: Die ganze Zeit ist ein seltsames, vermummtes Wesen auf der Bühne, dessen Existenz von (fast) allen geleugnet wird - und doch treten, ohrfeigen und mißhandeln sie es permanent, als befände man sich im Houllebecq'schen SM-Keller (und in der Tat wird die Gewalt gegen das Phantom besonders von weiblichen Teilen des Ensembles mit geradezu beängstigender Spielfreude in Szene gesetzt) Offensichtlich handelt es sich hier um das bemitleidenswerte Schmürz (das auch im Original "Le Schmürz" heißt). Wer oder was ist das Schmürz? Erraten, dies ist die zentrale Fragestellung des Stückes.
Das Theater der Letzten ist - vielleicht aus der Not einer Low-Budget-Produktion heraus - auf eine clevere Idee gekommen: Kein Geld für Bühnenumbauten? Dann muß eben das Publikum mitumziehen quer durch das Gebäude! So wird die zunehmende räumliche Beengung des Daseins (wie übrigens auch das Schmürz-Bashing!) äußerst physisch erlebbar. Einziger Nachteil: Es passen nur so viele Zuschauer rein wie in den kleinsten Raum, logisch. Aber mehr finden vielleicht sowieso nicht den Weg in die versteckte labyrinthische Welt der "Kathedrale" in der Schliemannstrasse (einer im Szenebezirk rar gewordenen Mischung aus Altbaukeller und Rohbauruine). Das ist schade, denn man erlebt eine äußerst solide, werk- und textgetreue Aufführung, die den Spaß nicht durch Regietheatermätzchen verdirbt, sondern die beschränkten Mittel durchdacht einsetzt.

Weitere Vorstellungen 27./28.5 und 10./11./12./16./17./18./24./25.6. jeweils 20 Uhr
"Kathedrale", Schliemannstr. 40, U2 Eberswalder Strasse
www.theaterderletzten.de
Joachim Marquardt



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